Leseprobe „Mit Abstand verliebt“

12. März 2020

+++ Zur Vorbeugung von depressiven Verstimmungen rät Stefan Koelsch, Professor für Bio- und Musikpsychologie, in guter Verfassung eine Playlist zusammenzustellen, die mit trauriger Musik anfängt und mit Musik in der Stimmung endet, in die man kommen will +++ Sachsen-Anhalts Wirtschaftsministerium schaltet ab morgen eine Hotline. Dort sollen Unternehmen über Unterstützungsangebote informiert werden +++ In seinem neuen Buch »Im Grunde gut« betont der Historiker und
Journalist Rutger Bregman, das Wesen des Menschen führe uns gerade bei Naturkatastrophen oder in Kriegen zur Zusammenarbeit: »Es kommt dann geradezu zu einer Explosion des Altruismus und des Einanderhelfens« ++

»Jella? Bist du da drin?«
Sie betrachtete gerade die Tiefe der Falten in ihren Fingerkuppen und überlegte, wie lange sie bereits in der Wanne lag. Ob ihre Haut danach nach Lavendel und Hopfen riechen würde? Was passierte eigentlich, wenn man die Zwei-Stunden-Grenze überschritt? Ihre Sound-Box stand neben dem Smartphone auf dem Toilettendeckel, und Patrice sang zum siebten Mal »Everyday Good«.
»Ja, ich bin hier drin. Was gibt’s?«, fragte sie zurück und versuchte, nicht genervt zu klingen. In einer Wohngemeinschaft, in der nur zwei Menschen lebten, war es überflüssig zu fragen, wer sich im Bad befand, wenn abgeschlossen war.
»Ach, nichts Wichtiges«, erwiderte Ralf. »Ich wollte nur wissen, ob dein Yoga-Studio geschlossen wurde.«
Ralf erkundigte sich ausgesprochen selten nach Dingen aus Jellas Leben, die seines nicht tangierten. Es war fast schon verwunderlich, dass er sich erinnerte, dass sie Yoga-Lehrerin war. Ralf und sie hatten nicht sehr viel gemeinsam. Außer vielleicht, dass sie beide Weißwürste mochten und Ozark auf Netflix schauten. Natürlich in getrennten Zimmern.
»Nein. Wurde es nicht. Warum?«, entgegnete sie.
»Na, wegen Corona!« Ralf klang barsch, soweit Jella das durch die geschlossene Tür und an der Musik vorbei hören konnte.
»In Italien gibt es Ausgangssperren. Es ist alles geschlossen, was nicht systemrelevant ist. Das kommt hier auch bald!«
»Aha«, sagte Jella gelangweilt. »Können wir das gleich besprechen, wenn ich aus der Wanne raus bin?« Und was sollte das überhaupt heißen: systemrelevant?
»Nein! Nein!« Seine Antwort klang beinahe hysterisch. »Bleib bitte da drin.«
Dass Ralf etwas eigensinnig war, war Jella schon bei der Zimmerbesichtigung aufgefallen. Damals hatte er sie gebeten, einen ausgedruckten Fragebogen auszufüllen, in dem es um Ernährungsgewohnheiten und Besuchsintervalle ging. Anschließend hatte er erzählt, er programmiere Apps für die Berechnung von Lastwagenmaßen und zur Insektenbestimmung. Alles etwas bizarr. Aber das Zimmer war unschlagbar günstig und perfekt gelegen im Reiherstieg-Viertel. Die grüne Gegend auf der anderen Elbseite war gerade mehr als angesagt, und gefühlte neunzig Prozent aller Hamburger zwischen fünfundzwanzig und vierzig Jahren bewarben sich dort für WG-Zimmer in Altbauten. Deshalb hatte sie zugesagt, als Ralf bekannt gab, dass sie die Auserwählte sei. Vielleicht aus Mangel an anderen Interessenten, weil er den meisten doch zu sonderbar war. Vielleicht, weil sie tatsächlich die beste Wahl gewesen war. Wie auch immer. Bisher war alles gut gegangen. Von den nervigen Besprechungen zum Hygienestandard der Wohnung mal abgesehen. Dass Ralf jetzt wegen eines Virus in Hysterie ausbrechen würde, damit hätte niemand rechnen können.
»Das ist mir lieber so«, fügte er an.
Aha. Es war ihrem Mitbewohner lieber, dass sie durch die geschlossene Tür kommunizierten? Das konnte nicht sein Ernst sein.
»Bist du endlich getestet worden?«
Doch, das war sein Ernst: Er bevorzugte den Austausch durch eine Tür. Und kam nun zum eigentlichen Punkt. Jella hatte erwartet, dass Ralf ihren Teststatus erneut überprüfen würde, nachdem sie die Nachfrage in der vergangenen Woche bereits zweimal verneint hatte. Trotzdem hatte sie insgeheim gehofft, er hätte das Thema »Partyfolgen und Infektionsrisiken« wieder vergessen. Hatte er natürlich nicht. Mit der Frage nach dem Yoga-Studio und dem Hinweis, dass es um »nichts Wichtiges« gehe, hatte er offenbar Entspanntheit vortäuschen wollen. Was ihm nicht gelungen war. Warum war sie nur so dermaßen unbedacht gewesen und hatte ihm von Davids Nachricht erzählt?
»Das mit dem Test geht immer noch nicht. Die Krankenhäuser sind weiterhin überlastet«, antwortete Jella wahrheitsgemäß.
»Wie bitte?!« Ralfs Stimme wurde dünner.
Jella sah ihn vor ihrem geistigen Auge bleich werden und sich am Türrahmen festhalten. »Ich muss warten, bis das Testen beim Gesundheitsamt wieder geht«, fuhr sie fort, wohl wissend, dass das zur Beruhigung dieses Paranoikers nicht ausreichen würde.
»Jella, dir ist aber klar, wie ernst die Lage ist, oder?«
Klang er wütend?
»Ja«, log sie. »Nur, wir sterben ja nicht gleich alle morgen. Ich lass mich schon testen.«
»Ich hoffe, du weißt, was auf dem Spiel steht. Du gefährdest Menschenleben, wenn du die Wohnung verlässt. Übrigens auch jeden in der Wohnung.«
Sieh an, Ralf kam offenbar wieder zu Kräften.
»Wir alle müssen persönliche Kontakte ab sofort auf ein absolut notwendiges Minimum begrenzen. Wer infiziert ist, muss in Quarantäne bleiben.«
Jella überlegte, was ein »notwendiges Minimum menschlicher Kontakte« sein sollte. Und ob mit »Kontakte« die Anzahl der Personen, die man traf, gemeint war oder jede einzelne Begegnung. Sie versuchte, Ersteres zu zählen. In ihrem Leben gab es aktuell etwa siebzehn notwendige persönliche Kontakte. In Deutschland. Die anderen konnten für den Moment sicher außer Acht gelassen werden.
»Ich habe siebzehn«, antwortete sie.
»Wie bitte?« Ralf wirkte wieder verstört. Oder lag das daran,
dass Patrice’ Stimme gerade so emotional wurde?

(…)

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